Wissen
Ein Artikel von Gabi Reinmann-Rothmeier und Heinz Mandl
Epistemologische Grundlagen
Die Frage, was Wissen ist und wie es entsteht, gehört zu den grundlegenden Fragestellungen der Philosophie. In der westlichen Epistemologie ist der Begriff des Wissens seit jeher eng mit der Suche nach der „Wahrheit“ verknüpft; dies prädestiniert das Thema für eine kontroverse Debatte, die sich bis auf die antike Auseinandersetzung zwischen Platon und Aristoteles zurückverfolgen läßt: Es existiert ein apriorisches Wissen, das nicht durch Sinneswahrnehmungen erklärt werden muß – so Platons (428 – 347 v.Chr.) These. Wissen wird folglich deduktiv erlangt, die absolute Wahrheit entsprechend durch logisches Denken erschlossen. Damit war der Rationalismus geboren, der in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit René Descartes seinen wichtigsten Vertreter fand. Es gibt kein apriorisches Wissen, konterte Aristoteles (384 – 322 v.Chr.), der in der Sinneserfahrung die einzig wahre Wissensquelle sah. Wissen, so sein Fazit, wird induktiv erlangt, Erkenntnis aus Sinneserfahrungen abgeleitet. Aristoteles schuf auf diese Weise den Gegenspieler des Rationalismus – den Empirismus, der in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts am prominentesten von John Locke repräsentiert wurde. Im 18. Jahrhundert gab es vor allem mit Kant und Hegel Versuche, Rationalismus und Empirismus zu „versöhnen“, etwa mit der Annahme eines Zusammenwirkens von logischem Denken und Sinneswahrnehmung. Im Laufe des 20. Jahrhunderts gesellten sich weitere Strömungen hinzu (z.B. Phänomenologie, Pragmatismus etc.), die das Wissen in enger Verbindung etwa mit Handeln, Körpererfahrung oder Sprache sahen. In der Folge verwischten die Grenzen der beiden „alten Lager Rationalismus und Empirismus“ ein wenig, ohne aber zu verschwinden. Im Gegenteil: Wer sich mit Wissen auseinandersetzt und nach seinem „Wesen“ sucht, den beschäftigt die zugrundeliegende Kontroverse auch heute noch.
Die Psychologie des Wissens
In der heute zunehmend komplexer werdenden Welt, in der der einzelne einer kaum noch überschaubaren Flut und Vielfalt von Information und Wissen ausgesetzt ist, gewinnt das Wissen als Gegenstand der psychologischen Forschung an hoher Aktualität. Im Rahmen der Kognitionspsychologie (Kognition) hat sich seit Mitte der 80er Jahre die Wissenspsychologie (Mandl & Spada, 1988) entwickelt, die verschiedene Forschungsinhalte wie Modelle der Wissensrepräsentation (Gedächtnis), Erwerb von Wissen (Lernen), Anwendung von Wissen (Denken; Entscheidung; Handlung) und Wissensveränderung unter der Fragestellung zu bündeln versucht: Welche Rolle kommt der Analyse von Wissensprozessen in verschiedenen Teilbereichen der Psychologie zu? Verschiedene Teilbereiche der Kognitionspsychologie werden somit aus wissenspsychologischer Perspektive neu strukturiert und mit einem besonderen Methodenrepertoire (quantitative und qualitative Wissensdiagnose) untersucht. Die Erforschung von Wissen und Wissensprozessen ist letztlich aber in vielen Teilbereichen der Psychologie verhaftet – wohl ein Indiz dafür, daß dem Wissen in zahlreichen psychologischen Phänomenen ein zentraler Stellenwert zukommt.
Wikipedia sagt dazu:
Philosophische Begriffsanalyse
Die Analyse unseres Begriffes von Wissen gilt als eines der zentralen Probleme der heutigen Erkenntnistheorie.[5] Bereits Platon diskutiert im Theaitetos verschiedene Versuche einer Bestimmung des Begriffes des Wissens. Zum zentralen Thema wurde eine solche Analyse allerdings erst mit dem Aufkommen der Analytischen Philosophie, der zufolge die Analyse unserer Sprache das Kerngebiet der Philosophie ist.
Wissen-wie und Wissen-dass
Eine verbreitete auf Gilbert Ryle zurückgehende Unterscheidung trennt sogenanntes Wissen-wie (oder auch „praktisches Wissen“) von Wissen-dass (oder auch „propositionales Wissen“).[6] Unter Wissen-wie versteht Ryle eine Fähigkeit oder Disposition, wie etwa die Fähigkeit Fahrrad zu fahren oder Klavier zu spielen. Sprachlich drücken wir solches Wissen in Sätzen wie „Tina weiß, wie man Fahrrad fährt“ oder „Paul weiß, wie man Klavier spielt“ aus. Solches Wissen bezieht sich in der Regel nicht auf Fakten und lässt sich oft auch nicht ohne Weiteres sprachlich darstellen. Zum Beispiel kann ein virtuoser Klavierspieler einem Laien nicht durch bloße Erklärung sein Wissen-wie vermitteln. Ryle selbst stellt sich gegen die „intellektualistische“ Sichtweise, dass sich Wissen-wie letztlich aber doch auf eine (möglicherweise komplexe) Menge von gewussten Propositionen reduzieren lässt. Diese These wird auch weiterhin in der Erkenntnistheorie diskutiert.[7]
Im Unterschied zu Wissen-wie bezieht sich Wissen-dass direkt auf Propositionen, also auf Aussagen die sich sprachlich wiedergeben lassen. Zum Beispiel reden wir von Wissen-dass in Sätzen wie „Ilse weiß, dass Wale Säugetiere sind“ oder „Frank weiß, dass es keine höchste Primzahl gibt.“ Allerdings muss die gewusste Proposition nicht immer in die Wissenszuschreibung direkt eingebettet sein. Auch Sätze wie „Lisa weiß, wie viele Planeten das Sonnensystem hat“ oder „Karl weiß, was Sarah zu Weihnachten bekommt“ drücken Wissen-dass aus, nämlich weil es eine von Lisa bzw. Karl gewusste Proposition gibt auf die der Satz anspielt. Wissen-dass bezieht sich auf Tatsachen, weshalb sich die erkenntnistheoretischen Debatten um etwa den Skeptizismus in der Regel auf Wissen-dass beschränken.
Definitionen von Wissen
Einer in der analytischen Philosophie vertretenen These zufolge ist propositionales Wissen eine wahre, gerechtfertigte Überzeugung.[8] Der Satz „S weiß p“ ist demnach dann wahr, wenn (1) p wahr ist (Falsches kann S nur für wahr halten, er irrt sich dann aber) (Wahrheitsbedingung); (2) S davon überzeugt ist, dass p wahr ist (Überzeugungsbedingung); (3) S einen Grund/eine Rechtfertigung dafür angeben kann, dass p wahr ist (Rechtfertigungsbedingung).
Inwieweit diese Analyse schon von Platon diskutiert wurde, ist umstritten.[9] Im Theaitetos wird unter anderem die These aufgeworfen, dass Wissen wahre Meinung mit Verständnis sei, allerdings wird dies dann verworfen.[10]
Siehe auch Gettier-Problem/Historische Einordnung
Die Idee der Definition
Zunächst kann man nur dann etwas wissen, wenn man auch eine entsprechende Meinung hat: Der Satz „Ich weiß, dass es regnet, aber ich bin nicht der Meinung, dass es regnet.“ wäre ein Selbstwiderspruch. Eine Meinung ist jedoch nicht hinreichend für Wissen. So kann man etwa falsche Meinungen haben, jedoch kein falsches Wissen. Wissen kann also nur dann vorliegen, wenn man eine wahre Meinung hat. Doch nicht jede wahre Meinung stellt Wissen dar. So kann eine Person eine wahre Meinung über die nächsten Lottozahlen haben, sie kann jedoch kaum wissen, was die nächsten Lottozahlen sein werden.
Von vielen Philosophen wird nun argumentiert, dass eine wahre Meinung gerechtfertigt sein muss, wenn sie Wissen darstellen soll. So kann man etwa Wissen über bereits gezogene Lottozahlen haben, hier sind jedoch auch Rechtfertigungen möglich. Im Falle zukünftiger Lottozahlen ist dies nicht möglich, weswegen selbst eine wahre Meinung hier kein Wissen darstellen kann. Eine solche Definition des Wissens erlaubt auch eine Unterscheidung zwischen „Wissen“ und „bloßem Meinen“ oder „Glauben“.
Das Gettier-Problem
→ Hauptartikel: Gettier-Problem
1963 veröffentlichte der amerikanische Philosoph Edmund Gettier einen Aufsatz, in dem er zu zeigen beanspruchte, dass auch eine wahre, gerechtfertigte Meinung nicht immer Wissen darstellt.[11] Im Gettier-Problem werden Situationen entworfen, in denen wahre, gerechtfertigte Meinungen, jedoch kein Wissen vorliegt. Unter anderem diskutiert Gettier den folgenden Fall: Man nehme an, dass sich Smith und Jones um eine Stelle beworben haben. Smith hat die gerechtfertigte Meinung, dass Jones den Job bekommen wird, da der Arbeitgeber entsprechende Andeutungen gemacht hat. Zudem hat Smith die gerechtfertigte Meinung, dass Jones zehn Münzen in seiner Tasche hat. Aus diesen beiden gerechtfertigten Meinungen folgt die ebenfalls gerechtfertigte Meinung:
(1) Der Mann, der den Job bekommen wird, hat zehn Münzen in seiner Tasche.
Nun bekommt allerdings Smith – ohne dass Smith dies weiß – und nicht Jones den Job. Zudem hat Smith, ohne dies zu ahnen, ebenfalls zehn Münzen in seiner Tasche. Smith hat also nicht nur die gerechtfertigte Meinung, dass (1) wahr ist, der Satz ist tatsächlich wahr. Smith verfügt also über die wahre, gerechtfertigte Meinung, dass (1) wahr ist. Dennoch weiß er natürlich nicht, dass (1) wahr ist, denn er hat ja keine Ahnung, wie viele Münzen sich in seiner eigenen Tasche befinden.
Dieses Beispiel wirkt zwar recht konstruiert, es geht allerdings auch nur um den grundsätzlichen Punkt, dass sich Situationen denken lassen, in denen eine wahre, gerechtfertigte Meinung kein Wissen darstellt. Dies reicht bereits, um zu zeigen, dass „Wissen“ nicht entsprechend definiert werden kann.
Die „Gettier-Debatte“
An Gettiers Aufsatz schloss sich eine umfangreiche Debatte an. Es wurde dabei allgemein akzeptiert, dass das Gettier-Problem zeigt, dass sich Wissen nicht als wahre, gerechtfertigte Meinung definieren lässt. Allerdings blieb umstritten, wie mit dem von Gettier aufgeworfenen Problem umgegangen werden soll. David Armstrong argumentierte etwa, dass man lediglich eine vierte Bedingung ergänzen müsse, um zu einer Definition von Wissen zu gelangen.[12] Er schlug vor, dass wahre, gerechtfertigte Meinungen nur dann als Wissen gelten sollten, wenn die Meinung selbst nicht aus falschen Annahmen abgeleitet ist. So würde man in dem von Gettier diskutierten Beispiel deshalb nicht von Wissen reden, weil Smiths Meinung auf der falschen Annahme beruhe, dass Jones den Job bekomme. In den 1960er und 1970er Jahren wurden zahlreiche ähnliche Vorschläge zu einer vierten Bedingung für Wissen gemacht.[13]
Innerhalb dieser Debatte wurden auch zahlreiche weitere Gegenbeispiele gegen Vorschläge zur Definition von Wissen vorgebracht. Ein besonders bekanntes Gedankenexperiment stammt von Alvin Goldman: Man stelle sich eine Region vor, in der die Bewohner täuschend echte Scheunenattrappen am Straßenrand aufstellen, sodass hindurchfahrende Besucher ähnlich potemkinschen Dörfern den Eindruck haben, echte Scheunentore zu sehen.[14] Man nehme nun an, dass ein Besucher durch Zufall vor der einzigen echten Scheune der Region halte. Dieser Besucher hat die Meinung, dass er sich vor einer Scheune befindet. Diese Meinung ist zudem wahr und durch den visuellen Eindruck gerechtfertigt. Dennoch würde man nicht sagen wollen, dass er weiß, dass er sich vor einer echten Scheune befindet. Er ist ja nur durch einen Zufall nicht vor einer der zahllosen Attrappen gelandet. Dieses Beispiel ist unter anderem ein Problem für Armstrongs Definition, da der Besucher seine Meinung nicht auf falsche Annahmen zu stützen scheint, und demnach auch Armstrongs Definition ihm Wissen zusprechen würde.
Goldman selbst wollte mit diesem Beispiel einen alternativen Ansatz unterstützen: er vertrat die These, dass die Rechtfertigungsbedingung durch eine kausale Verlässlichkeitsbedingung ersetzt werden müsse. Es komme nicht darauf an, dass eine Person ihre Meinung rational rechtfertigen könne, vielmehr müsse die wahre Meinung auf eine verlässliche Weise verursacht sein. Das ist im oben erwähnten Scheunen-Beispiel nicht der Fall: der Besucher kann nur unzuverlässig Scheunen erkennen, da er in der gegenwärtigen Umgebung oft durch Scheunenattrappen getäuscht würde. Goldmans Theorie fügt sich in eine Reihe von Ansätzen ein, die in verschiedenen Weisen eine verlässliche Methode verlangen. Diese Ansätze werden als reliabilistisch bezeichnet.[15] Ein Kernproblem für diese Ansätze ist das sogenannte „generality problem“[16]: Es ist möglich, dass dieselbe Person auf einer allgemeinen Ebene über eine verlässliche Methode verfügt, die auf spezifischerer Ebene aber unzuverlässig ist. Zum Beispiel verfügt der Besucher im Scheunen-Beispiel auch weiterhin über eine verlässliche Wahrnehmung, aber seine Scheunen-Wahrnehmung ist sehr unzuverlässig. Auf einer noch spezifischeren Ebene, nämlich der Wahrnehmung der ganz spezifischen Scheune, vor der sich der Besucher befindet, wäre seine Wahrnehmung wieder verlässlich. Will sich ein Vertreter des Reliabilismus nun auf eine Ebene der Allgemeinheit festlegen, so stellt sich zum einen das Problem, diese Ebene genau zu definieren, zum anderen drohen weitere Gegenbeispiele, in denen eine andere Ebene die natürlichere Perspektive darstellt.
Ist Wissen definierbar?
Die dargestellten Probleme ergeben sich aus dem Anspruch, eine exakte Definition anzugeben, folglich reicht schon ein einziges, konstruiertes Gegenbeispiel, um eine Begriffsbestimmung zu widerlegen. Angesichts dieser Situation kann man sich die Frage stellen, ob eine Definition von „Wissen“ überhaupt nötig oder auch möglich ist. Im Sinne Ludwig Wittgensteins Spätphilosophie kann man etwa argumentieren, dass „Wissen“ ein alltagssprachlicher Begriff ohne scharfe Grenzen ist und die verschiedenen Verwendungen von „Wissen“ nur durch Familienähnlichkeiten zusammengehalten werden.[17] Eine solche Analyse würde eine allgemeine Definition von „Wissen“ ausschließen, müsste jedoch nicht zu einer Problematisierung des Wissensbegriffs führen. Man müsste lediglich die Vorstellung aufgeben, „Wissen“ exakt definieren zu können.
Einflussreich ist insbesondere Timothy Williamsons These, dass Wissen sich nicht mit Hilfe anderer Begriffe erklären lässt, sondern vielmehr als Ausgangspunkt für andere erkenntnistheoretische Bemühungen betrachtet werden sollte.[18] Diese These Williamsons ist der Kern der gegenwärtig verbreiteten „Knowledge First“-Erkenntnistheorie. Aber auch außerhalb dieser Strömung wird der Versuch, Wissen zu definieren, zunehmend verworfen, so etwa von Ansgar Beckerma